Reisen als Lebenskunst
Während einige Menschen ihre Erholung und den angemessenen Abstand zum Alltag in Wellness-Resorts suchen, wählen Outdoor Guides und andere moderne Nomaden lieber die Begegnung mit der Natur. Sie reduzieren ihre Ausrüstung auf das Wesentliche, packen ihren Rucksack und ziehen los in die Welt.
Das Biwak wird zum Zuhause auf Zeit und zum Hotel mit fünf Millionen Sternen. Bei dieser Form des Outdoor-Existenzialismus geht es nicht in erster Linie darum, die höchsten Gipfel und die entferntesten Strände zu erreichen sondern viel mehr auch um Reisen als Lebenskunst. Dabei gelten Bewusstsein und Achtsamkeit gleich viel wie Outdoor-Techniken und Führungsgeschick. Es geht nicht darum Monate auf die nächsten Ferien zu bangen, sondern auch kleine Zeitfenster zu nutzen und Taschenformat-Abenteuer zu erleben. Eine Übernachtung in den Bergen birgt zu jeder Jahreszeit unvergessliche Erlebnisse und wirkungsvolle Naturerfahrung. Ein Nachmittag am Fluss lässt Stress vorüberziehen und bietet die Gelegenheit einer wohltuenden Kopfwäsche. Nomadenvölker leben seit jeher im Einklang mit ihrer Umgebung, den Naturkräften und Elementen. Auf diese Kunst des Sich-Einlassens und der aktiven Verantwortungsübernahme für die einfachen Alltagshandlungen wie Feuer-machen, Kochen und Wasser holen, Unterwegssein, Übernachtungsplätze suchen und Camps bauen spezialisieren sich auch moderne Nomaden wie etwa die sogenannten Outdoor Guides oder Erlebnispädagoginnen. Sie reisen alleine oder mit Gruppen zum Beispiel mit Seekajaks durch die schwedischen Schären, mit Kanus auf den grossen Flüssen Europas oder mit Schneeschuhen quer durch die Alpen. Sie gestalten Aktiv-Retreats und Waldcamps, Iglu-Dörfer und Küsten-Trekkings. Damit pflegen sie einerseits die Rückbesinnung auf uralte Traditionen und testen gleichzeitig Wege aktueller Formen von Suffizienz, Nachhaltigkeit und Naturverbundenheit.
Reisen als Berufung
Viele Menschen haben heute die Möglichkeit zu reisen, ob in ferne Länder, pulsierende Städte oder auch ins Outdoor. Reisen gehört schon fast zu einer westeuropäischen Kulturtechnik, aber immer wieder kommen Menschen selbst nach längeren Ferien frustriert zurück. Sie haben zwar viel gesehen aber doch nichts wirklich Berührendes erlebt. Sie haben das Reisen konsumiert wie zu Hause einen TV-Abend oder ein gutes Essen nach dem Feierabend.
Hingegen bedingt nomadisch in der Natur unterwegs sein ein hohes Mass an Achtsamkeit und Präsenz. Das Wetter gestaltet das Tagesprogramm ebenso mit, wie spontane Begegnungen oder das Kochen eines bestimmten Feuer-Gerichtes. Das tägliche Ein- und Auspacken und das langsame Vorwärtskommen entschleunigen und werfen einen auf sich selbst zurück, auf die ureigenen Bedürfnisse. An einem solchen Aktiv-Retreat teilzunehmen, bedeutet in der Handlung zu sein und doch eine Auszeit zu geniessen, Zeit für Gedanken zu haben und Musse für das Alltägliche. Dabei sind gemeinsame Erlebnisse genau so möglich, wie tiefe Gespräche am Lagerfeuer oder ein frühmorgendlicher Spaziergang.
Auch diese Art des Reisens ist heute einer grossen Mehrheit möglich. Wären da nicht die eigenen Hemmschwellen, die Ängste und Bequemlichkeiten. Auf Luxus und Komfort zu verzichten, bedeutet zuerst einmal Überwindung, der Gewinn kommt hinterher. Wer sich aber auf diese Art des Reisens einlässt, wird von der Konsumentin zur Geniesserin, vom Passagier zum Akteur. Reisen wird zum Lebensprojekt, zu einer Form der Weiterentwicklung und einem persönlichen Lernweg. Der neuerliche Aufschwung des Pilgerns spiegelt diese Tatsache ganz gut.
Outdoor Kunst
Outdoor Guides reisen aus Berufung, sie beherrschen die Handwerkskunst modernen Nomadentums und bewegen sich sicher und frei durch verschiedene Naturräume und zu allen Jahreszeiten. Sie können Iglus bauen und einen Kanadier über das Fliessgewässer steuern. Sie machen das aktive Reisen zu einer Berufung und geben diese Form des Reisens auch an Unerfahrene gerne weiter. Dabei vertreten sie angelehnt an Heraklits Aussage „Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen“ eine Haltung der Unmittelbarkeit und Einzigartigkeit und verstehen jede Unternehmung und jedes noch so kleine Abenteuer als potenziell neu, überraschend und bereichernd, was einen bedeutenden Unterschied zu Pauschalreisen und Standart-Touren bedeutet.
Moderne Nomaden sind nicht nur unterwegs um irgendwo anzukommen, sie geniessen genauso sehr das Sein an einem schönen Ort, das Verweilen und Eintauchen ins Arbeiten mit den Händen. Sie verbinden Ästhetik, Handwerk und Pragmatismus aber auch sinnfreie Freude am Tun. Sei dies um spezielle Delikatessen über dem Feuer zuzubereiten oder um das perfekte Gruppencamp zu bauen, um für das eigene Messer einen selbst gemachten Griff zu fertigen oder um neue Knoten zu erfinden.
Ausbildung zum Outdoor Guide
Mittlerweile gibt es verschiedene Ausbildungslehrgänge und Trainingsprogramme für Outdoor Guides. Davon hat das Institut planoalto wohl am meisten Erfahrung. Hier werden seit dreissig Jahren Outdoor Guides und Erlebnispädagoginnen ausgebildet. Die Weiterbildung zum Outdoor Guide umfasst 26 Kurstage verteilt auf fünf Module und über ein Jahr. Die Ausbildung ist selber als Reise respektive verschiedene Reisen konzipiert und führt etwa nach Skandinavien, in die Voralpen oder auch auf die Ardèche. Jedes Modul fokussiert andere Outdoortechniken, Führungsthemen und Aspekte wie Projektmanagement, Naturschutz oder Nachhaltigkeit. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden aber auch auf Gruppendynamik und persönliche Entwicklungsprozesse während dem Reisen sensibilisiert. Die Ausbildung ist so angelegt, dass persönliche Herausforderungen und kleinere Grenzerfahrungen durchaus einkalkuliert sind, weil genau in diesen Situationen das persönliche Lernen am effektivsten sein kann, sofern diese gut begleitet werden. Für einige mag das mehrtägige Trekking mit voll beladenem Rucksack eine Herausforderung sein, für andere eher das Wintercamp, die Übernachtung in einer Schneehöhle oder das Wildwasserschnuppern im Kanadier, für andere wiederum ist es das Kochen auf dem Feuer für zwanzig Leute oder das Übernehmen von Führungssequenzen.
Ausgebildete Outdoor Guides arbeiten vielerorts in der Tourismus-Branche aber auch in pädagogischen Einrichtungen und für Outdoor-Firmen. Viele bieten selbständig Touren, Abenteuer-Reisen und Aktiv-Retreats an oder aber sie reisen einfach für sich – sind Nomaden aus Leidenschaft.
Mehr Informationen:
Handbuch für Outdoor Guides. 2013, Zielverlag
Führung lernt man draussen. 2014, NZZ Libro
Bilder: shutterstock und www.planoalto.ch